Die Zeit schien sich zu verlangsamen, und ich nahm alles überklar wahr: mein Büro, die Lache des Erbrochenen neben mir, die Skorpione, die auf dem Weg durch meinen Körper zu verharren schienen. Und die Assassinin, die mich ansah wie ein Insekt unter dem Mikroskop.
„Du bist einfach aus deiner Familie weggelaufen? Hast deine Sippe verlassen? Das musst du mir näher erklären.“
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. „Sie würden mir ja doch nicht glauben.“
„Probier es aus!“
„Wie Sie meinen.“ Ich kniete mich hin, dankbar für die kurze Atempause. „Meine Eltern sind nur an dem Rat interessiert. Beide! Das ist das einzige, was zählt! Ihre vier Kinder sind für sie nur wichtig, weil man mit ihnen Eindruck schinden und in die richtige Position schieben kann. Ich hatte es satt, wie ein Zuchtgaul angesehen zu werden von meiner eigenen Familie.“ Ich blickte auf. Die Schmerzen waren mittlerweile zu ertragen. Hattie sah mich stirnrunzelnd an.
„Ich verstehe dein Problem nicht“, sagte sie schließlich. Ich hatte es mir gleich gedacht. Wie sollte ich es ihr verständlich machen?
„Ich wollte kein Teil dieses Lebens mehr sein. Ich wollte etwas Nützliches mit meinem Leben machen, eine Unterschied machen. Aber da konnte ich das nicht. Ich dachte, ich könnte, aber nachdem Offi verschwand, wurde mir klar, dass ich zuhause nie mehr sein würde als ein Lakai für meinen Vater.“
„Offi ist dann wohl deine Schwester Ophelia?“
Ich nickte. „Genau!“
„Was ist mit ihr passiert?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Das versuche ich ja, herauszufinden. Offi ging hier in Frankfurt an die Universität. Wie alle Schamkinder wurde von ihr erwartet, eine praktische Ausbildung zu machen, um die Familie zu unterstützen und das Schandzeichen ihrer Geburt auszugleichen.“ Der Schmerz wurde wieder stärker.
„Du sagst nicht die ganze Wahrheit?“, sagte Haptesput drohend.
„Ich glaube nur nicht dran. Offi war der wunderbarste Mensch, den ich kannte. Sie als Scham für die Familie zu bezeichnen, klingt einfach falsch.“
„Sie besaß keine Magie und damit ist sie eine Schande für die Familie. Sei froh, dass du in der heutigen schwachen Zeit lebst! Zu meiner Zeit hat man die Schamkinder ausgesetzt, damit sie nicht die Familie mit ihrer Anwesenheit belasten“, sagte sie.
„Das ist noch abartiger.“
„Du scheinst der Magiergesellschaft keinen hohen Respekt entgegenzubringen.“
„Der Magierrat fordert Kadavergehorsam, und dann darf man es nicht mal Kadavergehorsam nennen.“
Ich erschrak bei meinen eigenen Worten. Respekt war wichtig, wurde höher eingeschätzt als alles andere, und schon alleine verräterische Gedanken konnten als Anlass für drakonische Bestrafung benutzt werden. Solche Gedanken, wie ich sie eben geäußert hatte!
Doch Hatti lachte nur. „Du magst deine Schwester.“ Es war eine Feststellung und keine Frage. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ja. Sie ist die einzige, die mich wie eine Person behandelt, und nicht wie eine Ansammlung an Leistungen.“
„Aber liegt das nicht daran, dass sie keine eigene Magie besitzt, und überhaupt nicht einschätzen kann, wie unsere Gesellschaft funktioniert?“
„Unsinn, sie war eine wunderbare Schwester. Für sie war die Magie und die Leistungen nie wi…aaaah“ ein Stich in meiner Seite hinderte mich am Weiterreden. Offie hatte sich oft beklagt, dass sie keine Magie besaß, und als sich herausstellte, dass ich die Magie unseres Großvaters fast unvermindert geerbt hatte, als erster Crowley seit hundert Jahren, hatte sie aus Neid fast ein Jahr lang nicht mit mir gesprochen.
„Sie wusste ganz genau, was ihr entging“, sagte ich langsam. „Und sie half mir, meinen eigenen Weg zu finden.“
„Ach, dann war sie es, die dich dazu verführt hat, deinen rechtmäßigen Platz zu verlassen.“
Ich überlegte. Eigentlich …
„Sie hat mir andere Möglichkeiten gezeigt.“ sagte ich langsam. Auf keinen Fall wollte ich, dass Offi Ärger mit dem allsehenden Auge bekam. Wenn sie den nicht schon hatte.
„Jetzt bin ich neugierig. Wie hat ein Schamkind es geschafft, das Wunderkind der Crowleys von seinem angestammten Pfad abzubringen?“
Ich biss mir meine Antwort hinunter. „Damit“, sagte ich nur kurz und wies auf das Regal hinter mir. Die Agentin schlenderte zu dem Regal, nahm ein Buch und las. „Die unheimlichen Fälle des Harry Dresden? Ein Kinderbuch?“
„Kein Kinderbuch. Es geht um einen Magier, und er ist Detektiv, und er sorgt sich um andere. Um alle anderen. Nicht nur die Mächtigen, nicht nur die, die ihm einen Vorteil verschaffen….“ ich begann enthusiastisch, Hapseptut von Harrys Fällen zu erzählen, dass er seine Magie für das beste aller einsetzte, dass er ein guter Mann war, während ich mich mehr und mehr wie eine politische Dekoration für die Pläne meiner Eltern fühlte. Hapseptut sah mich ausdruckslos an und meine Begeisterung verstummte. Wie sollte ich einer Agentin des allsehenden Auge erklären, dass es nicht immer um Macht und Einfluss ging? Das Konzept musste für sie so fremd sein wie für einen Maulwurf die Euklidschen Zahlen. Schließlich verstummte ich. Sie sah mich lange an und unter ihren goldenen Augen fühlte ich mich als würde ich um zusätzliche zwanzig Zentimeter schrumpfen.
„Zeig mir deine Hände!“, befahl sie schließlich, und automatisch gehorchte ich, doch was ich hob hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem, wie meine Hände normalerweise aussahen. Im Halbdunkel des Büros sah ich zwei unförmige Stumpen, auf denen unzählige Skorpione herumwimmelten.
Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, doch Hapseptut war schneller und griff nach meinen Händen. Ihre Finger glitten kühl über meine verschwitzten Unterarme, bis zu den Fingerspitzen. Die Skorpione krabbelten hinüber auf ihre Hände und rannten dann in den Ärmel ihres türkisfarbenen Blazers. Wenige Sekunden später waren sämtliche Krabbeltiere verschwunden, bis auf einen, der sich direkt über ihrer Brust wie eine interessante Brosche niederließ. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Du hast wirklich die Wahrheit gesagt“, sagte sie nachdenklich, als könne sie es selbst nicht wirklich glauben. „Du hast nichts zurückgehalten, sonst hätten die Därpione dich nicht in Ruhe gelassen. Du hast wirklich deinen angestammten Platz verlassen und den Zorn deiner gesamten Familie erregt, weil du in die Fußstapfen eines Detektivmagiers treten wolltest, den es nur in Büchern gibt.“
Dann prustete sie los. „Das ist köstlich. So einem Naivling bin ich ja schon seit Jahrhunderten nicht mehr begegnet. Du willst den Schwachen helfen und die Bösen bestrafen, ja?“
Ich nickte mit brennenden Ohren. Ja, es klang albern und kindisch.
„Wie weit bist du denn damit gekommen?“
„Nicht sehr weit“ gab ich zu, die Erinnerung an die Skorpionen immer noch im Gedächtnis.
„Und du willst weitermachen? Nicht zurück zu Mama und Papi kriechen und dich in der Ratspolitik einbringen?“
„Na, ich hab ja wohl keine große Wahl“, sagte ich trotzig.
„Wie meinst du das?“
„Sie haben mich gefunden. Ich glaube kaum, dass Sie mich einfach so gehen lassen.“
„Man hat immer eine Wahl! Die Frage ist nur, ob man bereit ist, den Preis zu bezahlen.“