Ich sitze im Bus von Linköping zurück nach Stockholm. Neben mir auf dem Platz schläft mein Freund. Ich schaue aus dem Fenster. Die Landschaft da draußen sieht aus wie aus den alten Nils Holgersson Filmen. Als Kind war ich süchtig danach. Papa hatte alle Folgen auf Video aufgenommen, und ich schaute sie mir hoch und runter an, bis ich alle Dialoge auswendig konnte.
Damals war ich fast jedes Wochenende bei meinen Großeltern. Das war ein Deal, der allen Beteiligten entgegen kam: meine Eltern hatten ein paar Stunden Ruhe vor mir, meine Großeltern freuten sich, ihre Enkelin um sich zu haben, und ich hatte den ganzen Tag Leute, die mit mir spielten.
Meine Oma brachte mir Rommespielen bei. Stundenlang saßen wir da und spielten Karten. Bestimmt versteckt sich immer noch irgendwo ein Block, auf dem unsere Punkte stehen. Außerdem briet sie das beste Putenschnitzel auf der Welt. Mit Opa spielte ich… Nils Holgersson. Ich war stets Nils Holgersson, während Opa manchmal die Rolle der Hausgans Martin übernahm. Noch öfter war er aber der Adler Gorgo. Noch mal zur Erinnerung die Hintergrundgeschichte: Nils Holgersson wird in ein Wichtelmännchen verwandelt, und fliegt zusammen mit den Wildgänsen nach Lappland. Während der Reise wird Nils von der Schar getrennt. Im Freilichtmuseum Skansen lernt er den Adler Gorgo kennen, befreit ihn, und fliegt zusammen mit ihm nach Lappland. Auf ihrem Weg erleben die beiden jede Menge Abenteuer. Und wie viele mehr haben wir erfunden! Wir sahen die Elche wandern, und die Biber, die in der Mittsommersonne ihre Burgen bauten, die Universität in Uppsala und die Gruben in Falun. Wir sammelten Blaubeeren, erblickten wieder und wieder den roten Turm Stockholms aus dem Nebel auftauchen. Immer verfolgt von Smirre, dem Fuchs. Wie oft erklang mein Ruf „Gorgo, los!“ auf der Terrasse. Und schon flogen wir wieder. Vorsichtig geschätzt dürften wir Schweden etwa zwanzig Mal überquert haben.
Verwandte und Freunde bewunderten die Geduld meines Großvaters. Dies verstand ich wiederum gar nicht. Manche wiesen mich darauf hin, dass mein Gorgo nicht fliegen könnte, schließlich hätte er nur einen Flügel (mein Opa hat einen Arm im Krieg verloren). Ehrlich gesagt hielt ich diese Leute für bescheuert. Mein Opa war ein Steinadler, wir flogen grad über Schweden, und die bekümmerten sich um einen Arm mehr oder weniger. Es gab Wichtigeres! Wir mussten verhindern, dass der Biberdamm brach.
Heute, als erwachsene Frau, verstehe ich diese Leute besser. Wie sie sehe ich in meiner Erinnerung diesen grauhaarigen Mann, das kleine Kind, dass auf seinem Schoß rumsprang, und an ihm zerrte. Wie er unverdrossen mit dem Arm ruderte, und mit dem Stummel, der ihm von dem zweiten Arm geblieben war. Und ich bin baff vor Staunen und etwas, was an Ehrfurcht grenzt. Wie hat er das ausgehalten? Woher nahm er die Energie und die Geduld?
Zu meinem Abitur schenke mein Großvater mir eine Kamera. Damit ich ihm Fotos mitbringen könnte von den Orten, wo ich hinfahren würde. Wie gerne würde ich ihm diese Fotos zeigen und ihm alles erzählen. Dass es in Schweden wirklich so aussieht wie in der Serie. Dass ich jetzt hier lebe, mit dem wunderbarsten Mann der Welt, dass ich die Mittsommersonne, den roten Turm, Skansen und die Rentiere selbst gesehen habe. Mein Großvater ist vor ein paar Jahren gestorben. Ich kann es ihm nicht mehr erzählen.
Aber… vielleicht brauche ich das überhaupt nicht. Er hat das ja alles selbst, mit mir zusammen gesehen. Schließlich sind wir gemeinsam über Schweden geflogen… mindestens zwanzig Mal – und das mit nur einem Arm.