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Als ich Dienstags schwer gespannt heimkam- wir bekamen diese Woche neue Fenster, begrüßten mich nicht nur nagelneue dreifach verglaste Scheiben (yeyy), sondern auch ein rot leuchtender Router. Unser Internet funktionierte nicht mehr. Sofort rief ich den besten Mann der Welt an.
„Das Internet geht nicht.“
*klappern im Hintergrund* „Doch“
„Ich meine zuhause.“
„Hast du den Router neu gestartet?“
„ja, klar, bringt nichts.“
„Ich schaus mir an, wenn ich heim komme.“
Als er aufgelegt hatte, starre ich noch eine ganze Weile auf den Bildschirm und die Schrift „kann nicht mit dem Internet verbinden“ Dann verkrieche ich mich mit einem Buch ins Bett.
Das Web in Schweden
Es ist unglaublich, wie sehr das World Wide Web unser aller Leben verändert hat. Was ursprünglich als Austauschplattform für Universität oder Militär konzipiert war (ich weiß nicht, welche Geschichte jetzt wahr ist, und ich kanns nicht überprüfen, weil- kein Internet), ist zu dem Medium der modernen Welt avanciert, wichtiger als Fernsehen, als Radio, als CD-player, sogar die Zeitungen- jahrhundertelang erste Informationsquelle wurden vom Internet auf einen hinteren Platz verwiesen.
Unter den technikverrückten Völkern wirken die Schweden, nun, besonders verrückt. Im Sommer fahren sie in ihre Sommerhäuser, ihre rotgestrichenen Stugas ohne fließend Wasser und mit Plumpsklo – aber der Laptop muss mit, natürlich mit einem kleinen Stick an der Seite, der ihnen ungestörten Internetgenuss verspricht. Als es in Deutschland noch modern war, über internetfähige Handys zu lästern, sah man in den Stockholmer Ubahnen bereits Leute auf ihren Handys Mails schreiben, Youtubte videos sehen oder Tickets buchen. Die meisten Leute, die ich auf Partys treffe, und frage, was sie von Beruf sind- IT-guys, Computerkerle- sogar die Mädels. Schwedische Universitäten bieten mit die beste IT-ausbildung überhaupt und kaum überraschend ist Schweden auf einem der Top-plätze was Entwicklung und Innovation im IT-Bereich angeht (ich glaube sie waren Platz 3 hinter USA und Indien, und ich glaube Deutschland lag so um den 10 Platz, ich kanns leider nicht nachprüfen, weil- kein Internet).
Die Internetanbieter reagieren auf die Wünsche des schwedischen Volkes und bieten extrem schnelle Verbindungen an. Die Preise liegen im selben Bereich wie in Deutschland- 40-60 Euro, aber für Verbindungen, die dreimal so schnell sind. Einen im Internet aufgenommenen Spielfilm lade ich in einer Stunde herunter (1 GB). Im Gegensatz zu den lahmen DSL-Enten ist unsere Verbindung ein Ferrari. Normalerweise. Derzeit leuchtet er zwar rot, tut sonst aber nichts.
Surfende Krokodile
Ich erwache als mein Liebster heimkommt. Er ist IT-Guy. Trotzdem, er weiß nicht weiter. Es ist zehn vor zehn, der Support von Bredbandbolaget hat bis zehn auf. Wir suchen die Nummer heraus- Gott sei Dank funktioniert mein Androidhandy noch. Fünf vor zehn. Wählen, eine Ansage kommt von Band, fünf mal zahlen eintippen, jedes Mal springt die Tastensperre wieder rein. Drei vor zehn. Vertippt, noch mal neu wählen. Wieder die Tastensperre. Ich fühle mich wie in diesem Alptraum, wo man auf einer Rolltreppe rennt und rennt und man kommt nicht weg, und unten wartet ein Krokodil. Tastensperre, fluchen, neu, verdrückt, noch mal! Wählen „derzeit ist unser Dienst nicht besetzt. Unsere Öffnungszeiten sind von 7-22 Uhr“ Eine Minute nach Zehn – verd$(&($§!!!!!
Am nächsten Morgen erwache ich mit dicken Augen und schwerem Kopf. Die ganze Nacht hab ich von surfenden Krokodilen geträumt. Die Erkältung, die mich am Wochenende davor niedergestreckt hat, ist zurück. Eigentlich ist klar- ich gehöre nach Hause. Ich beschließe, dass eine kleine Erkältung mich nicht von der Arbeit abhält und mache mich pflichtbewusst auf den Weg. Dienst ist Dienst! Außerdem- auf der Arbeit gibt es Internet.
Evil Internet
Daheim dafür immer noch nicht. Abends schleiche ich um meinen Rechner. Ich könnte andere Sachen machen, Blog schreiben, anderes schreiben, aber- alles fühlt sich irgendwo sinnlos an. Egal was ich mache, dauernd kehren meine Gedanken zum Internet zurück. Schluck, anscheinend bin ich internetsüchtig. Davon hört man ja sehr viel, dass man vereinsamt, völlig abhängig wird und nicht mehr lebensfähig ist ohne die Onlineleitung. Ich höre mich selbst jammern „kein Film gucken, keine Nachrichten, keine Musik, will mein Internet!“
Nicht mal mein Buch, schließlich ein Klassiker der Weltliteratur, vermag mich abzulenken. Der Abend zieht sich wie Kaugummi und scheint nicht zu vergehen. Mir war nie klar, wie oft ich mit diesem blöden Internet einfach nur Zeit totgeschlagen habe. So kann es nicht weiter gehen. Ich beschließe, mich ab jetzt vom Internet unabhängig zu machen. Ich stelle einen Plan auf- auf Papier, wenn schon, denn schon. Zur Bank kann ich nur Mittwochs abends, weil die nur da lang genug auf haben. Das kann ich erst nächste Woche erledigen. In der Bücherei kann ich auch anrufen. Da suche ich morgen auf Arbeit die Nummer heraus. Die Flüge kann ich eh erst buchen, wenn mein Chef den Urlaub genehmigt hat… am Schluss habe ich drei dicht beschriebene Blätter. Wenn ich jeden Tag etwas mache, bin ich bis Ende nächster Woche mit allem fertig. Das ist kein Problem. So habe ich es früher schließlich auch gemacht.
Geschichten aus der Steinzeit
Ich erinnere mich noch an die Zeit vor dem Internet (in technischen Zeitrechnung bin ich so etwas zwischen einem Dinsoaurier und einem Mammut). Ich war eine begeisterte Leseratte, las alles, was mir zwischen die Finger kam. Unsere Stadtbücherei hatte eine für eine regionale Bücherei beeindruckende Auswahl, aber mein Lesehunger fraß sich wie eine Heuschreckenplage durch die Bestände. Als das nicht mehr ausreichte, las ich Rezepte, Gebrauchsanweisungen, Anschläge an schwarzen Brettern. Ich war wohl die Einzige, die jemals die Satzung des roten Kreuzes komplett gelesen hat. Um ehrlich zu sein, ich war wohl ein ziemlich komisches Kind.
Dann kam das Studium, und damit tat sich mir eine ganz neue Bücherwelt auf. Die Universitätsbibliothek, ein 15 Stockwerke hoher Turm voller Bücher, zum ersten Mal in meinem Leben mehr Bücher, als ich lesen konnte. Zumindest theoretisch. Praktisch war der Turm für Studenten gesperrt. Die Bücher lagerten nach einem eigentümlichen Code in ihren Regalen,und ernst aussehende Männer holten sie nach Bitte für die Studenten herab. Schmökern und Stöbern gab es nicht. Man fand nur die Bücher, von denen man wusste, und manchmal nicht mal die. Es war so frustrierend. Ich fühlte mich wie William Baskerville im Namen der Rose. Alles Wissen der Welt, und man kam nicht herein. (Durch einen seltsamen Dreh des Schicksals bekam ich Jahre später einen Job in der Universitätsbibliothek. Meine Aufgabe war es, den Buchbestand zu digitalisieren. Nicht schlecht bezahlt, ich hätte es auch umsonst gemacht, nur für dieses unendliche Glück, zwischen den Regalen umherzustreifen und zu stöbern.)
Gleichzeitig hörte man auf dem Campus, in den Kneipen, bei Festen von einer ganz neuen Sache, dem „Internet“. Keiner wusste so recht, worum es ging. Anscheinend konnte man damit schnell Briefe verschicken. Und Nachrichten lesen. Und Bilder suchen. Die Universitäten waren die ersten, die Internet anboten, und erst zögerlich, dann immer begeisterter nahmen wir die neue Technologie auf.
Das Internet kam langsam auf die Beine. Um die Wahrheit zu sagen, das Internet war am Anfang wirklich nicht viel mehr als Emails, Nachrichtenseiten und Bilder (und Pornos, aber damit kenne ich mich nicht aus). Als es wuchs, wurde es zu einem Chaos. Wild blinkende Popups machten Lesen zu einer Qual, man fand mehr Werbung als wirkliche Information. Wir wandten uns ab.
Boykott, oder so
Ich habe das Internet früher nicht gebraucht, warum also jetzt? Alles nur Werbung und abhängig machen, damit man zum dummen Konsumenten wird. Aber nicht mit mir! Ab jetzt Netz nur noch, wenn es sein muss!
Meine Vorsätze zerbröseln wie Kekse beim Krümelmonster, als ich am nächsten Abend von der Arbeit heimkomme. Grüne Lichter springen über den Router wie fröhliche Lachse in schwedischen Flüssen. Mit einem Freudenschrei stürze ich an den Computer. Verlängere Bücher, lese Nachrichten, spreche mit einem Freund in Amsterdam. So bewege ich mich im Datenfluss,als… meine Router ein unheilvolles Knacken von sich gibt. Wir erstarren: die Figuren auf dem Bildschirm, ich vor dem Rechner, die grünen Lichter auf dem Router. Die grünen Lichter erlöschen, Ferrarirot ist angesagt. Wieder auf dem trockenen. Und- natürlich, wieder fünf nach Zehn. Zu spät für die Hotline.
Nach dem Rausch kommt der Kater. Am nächsten Tag bereue ich es zutiefst, der Internetsucht wieder verfallen zu sein. Ich gelobe Besserung und greife mir meine Zettel, um den Plan zu aktualisieren. Und staune.
Mehr als die Hälfte der Punkte kann ich abhaken. Besorgungen, für die ich zwei Tage gebraucht hätte, habe ich in zwei Stunden online erledigt. Ich starre auf meinen zusammen gestutzten Plan, und mir wird klar, was für eine großartige Sache das Internet doch ist.
Web 2.0
Nach der Durstzeit, in der das Internet nur noch ein Verkaufsplatz war (ich glaube, das war so um 2002 aber ich erinnere mich nicht mehr genau, und ich kann es nicht nachprüfen, weil- ihr wisst schon), stieg es hervor wie Phönix aus der Asche . Wikipedia, die Opensource Projekte nahmen ihren Anfang, und die sozialen Netzwerke entstanden, die Vorläufer des Web 2.0. Gleichzeitig wurde es demokratischer vielseitiger, diese komplexe Welt, die ich so liebe.
Ja, ich liebe das Internet. Ich liebe es, daß ich hier in Schweden die Dagen Nyheter lesen kann, oder die FAZ, oder die Zeit, dass ich CNN oder BBC schauen kann, oder die Tagesschau, oder alle drei, und sehen dass alle drei unterschiedliche Meinungen zu einer Sache haben und mir überlegen, wer recht hat (oder haben alle recht?) Ich liebe die Wikipedia, die nicht nur das Wissen dieser Welt freigiebig mit mir teilt, sondern mit der Großzügigkeit eines Maharadschas mehr Quellen nennt, Webseiten und auch Bücher, wo ich mehr Informationen finde.
Am meisten liebe ich die Einzelstimmen, die Menschen und die kleinen Blogs, die aus dem Internet das machen, was es ist. Von dem auch ich Eine bin, die Nachirchten in die Welt sendet, und jeder kann es lesen, einer, zehn, eine Millionen. Ich liebe es, von den Menschen zu lesen, in Kuba, in Afrika, wie ihr Alltag aussieht, was sie bewegt. Wann in der Geschichte hatte man jemals diese Möglichkeit!
Eine Welt in der Welt 
Das Internet ist so groß und so vielseitig, dass es sich in alle Bereiche drängen kann. Während dieses Artikels habe ich hundertmal das Internet aufrufen wollen. Viermal hätte ich es gebraucht. Die anderen 96 mal wollte ich schnell was anderes lesen, schauen, was es neues auf Facebook gibt, kurz mit nem Kumpel quatschen. Mich ablenken, das kann ich gut mit dem Internet. Und da muss ich aufpassen, das das nicht überhand nimmt. Das Internet enthält mehr schwarze Bretter als selbst ich lesen kann. So wie ich nichts mehr begreife, wenn ich fünf Bücher gleichzeitig lese, so habe ich in dem Wust der Webseiten den Überblick verloren. Für uns Auswanderer ist das Internet besonders wichtig, weil ein großer Teil unserer sozialen Kontakte über das Internet läuft, wir den Kontakt zu Freunden und Familie auch online halten. Aber nicht nur uns betrifft das, für jeden Menschen heute ist es eine tägliche Herausforderung, die Balance zu halten, zwischen den riesigen Möglichkeiten des Webs, und der Gefahr, von der Information überflutet zu werden.
Prioritäten setzen
Als ich gerade diesen Text überarbeite, klingelt mein Posteingang. Ohne, dass ich es gemerkt habe, ist der Router wieder angesprungen. Das Webb ist zurück, Danke, Bredbandsbolaget! Heute Abend werde ich mich im Netz suhlen, lesen, spielen. Aber schaue ich nur eine Sache nach: wie schwarze Pfifferlinge aussehen. Und dann gehe ich mit meinem Liebsten in die Pilze. Manchmal lohnt es sich, seine Prioritäten neu zu setzen. Das Internet kann warten.

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