In unserem Dorf sagt man, Gott zerbrösele den alten Mond zu Sternen
(Alexander Solzhenitsyn, One Day in the Life of Ivan Denisovich)
Einst waren die Nächte dunkel.
“Warte, Warte”, höre ich dich dazwischen rufen, ungeduldiger Zuhörer. “Die Nächte sind auch heute noch dunkel.”
Nein, das sind sie nicht. Die Nächte heutzutage sind erleuchtet von Millionen und Abermillionen von Lichtern, die Finsternis nur der Hintergrund für dieses wundervolle Gefunkel. Die Dunkelheit der alten Zeit dagegen findet man heute nur noch in Bergwerken, hundert Meter unter dem Erdboden. Es war zappenduster! Denn damals gab es noch keinen Mond und keine Sterne.
Schon damals lebten Menschen im Norden, beinahe so wie sie es heute tun, in ihren Zelten aus Birkenästen, Moos und Rentierfellen gegen den grimmigen Nordwind geschützt, wanderten sie mit ihren Rentierherden von Futterplatz zu Futterplatz, immer in Bewegung, mit ihren braunen und weißen Kleidern mit den roten Troddeln, den Schnee im Gesicht, den Wind in den Haaren. Sie waren hart, denn das mussten sie, aber freundlich, und Ehre und Gastfreundschaft bedeutete ihnen mehr als alles andere.
Zu jener Zeit wandelte Gott noch häufig auf der Erde, und oft besuchte er das Volk des Nordwindes. Da gab es gab keine Verkleidung, Lügen und solch Firlefanz. Er kam als wer Er war, und wurde begrüßt wie jeder Wanderer, mit Respekt und Freude, einem Platz am Feuer, heißem Met und einem Stück von Malins bestem Rentierkäse. Er hätte es nicht anders gewollt.
Als Er an jenem Abend das Lager erreichte, musste Er durch tiefen Schnee waten, denn der Winter hatte gerade begonnen. Wie stets wurde Er in das Zelt von Malin, der Stammesältesten, gebeten, wo sich das Dorf des Abends versammelte.
“Nun, sagte Er, und biss in sein Stück Käse, das Malin gerade aus dem Rauch geholt hatte, und das wunderbar nach Rauch und Milch duftete. “Wie ist das Leben für den Stamm des Nordwindes?” Die Stammesmitglieder wechselten einen Blick, wer antworten sollte und was.
“Es ist gut”, antwortete Malin schließlich. Alle nickten, alle bis auf ein kleines Mädchen, eine Enkelin von Malin, die neben ihrer Großmutter saß.
“Das freut mich zu hören”, sagte Gott. “Aber es scheint mir, deine kleine Freundin hier scheint anderer Meinung zu sein. Was ist los, Kind?” Die Angesprochene sah auf und ihr Blick nahm einen kalkulierenden Ausdruck an, als wollte sie sich vergewissern ob Er ihr zuhören oder sie auslachen würde.
Scheinbar gefiel ihr, was sie sah, denn sie holte tief Luft und sagte: “Ich kann nie draußen spielen. Ich habe so viel zu tun, dass ich immer bis zum Einbruch der Nacht arbeiten muss.”
“Ich verstehe”, sagte Gott langsam. “Deine Aufgaben sind wichtig, aber zu spielen ist es auch. Ich denke, einer von euch Erwachsenen sollte ihr ein wenig zur Hand gehen, so dass sie vielleicht eine halbe Stunde lang draußen spielen kann?” Die Leute sahen ihn abweisend an.
“Herr, das ist leider nicht möglich”, antwortete Malin schließlich. “Niemand hat Zeit, Kaissa bei ihren Aufgaben zu helfen. Wir müssen alle unsere Arbeiten draußen während der kurzen Sonnenstunden verrichten. Jetzt im Winter ist einfach nicht genug Zeit da.”
“Aber könnt ihr das nicht auch noch nach Sonnenuntergang machen?” fragte Gott.
Marlin schüttelte den Kopf. “Nein, es ist zu dunkel da draußen.” Die anderen Leute nickten zustimmend.
“Ich verstehe”, sagte Gott. “Das kann nur eines bedeuten: da ist ein Fehler in meiner Schöpfung. Wenn ich in den Himmel zurückkomme, werde ich mich sogleich darum kümmern.
Natürlich hielt Gott sein Wort. Sobald Er in den Himmel zurückkehrte, begab Er sich sofort an seine Werkbank, trotz der vielen Engel, die ihn umflatterten und Ihm zu berichten wünschten, von den Taten der Menschen, dem Gang der Welt und dem neuesten Psalm des Engelschores. Gott öffnete alle Schubladen, sah hierher und daher. Zuletzt fand Er, was Er suchte: eine kleine Schachtel, die Er seit den Tagen der Schöpfung nicht mehr geöffnet hatte. Die Samen darin sahen aus wie schlanke gebogene Bohnen, doch tatsächlich waren sie die Samen der Himmelscheiben. Bisher hatte Er erst eine von den hellgelben benutzt, und war hochzufrieden mit dem Ergebnis, beschien die Scheibe doch als Sonne jeden Tag die Erde, spendete Wärme und Licht. Eine zweite Sonne brauchte die Erde nicht. Die Nacht sollte Nacht bleiben und so entschied sich Gott für eine der weißen Samen, deren Frucht ein sanfteres Licht während der Nacht spenden würde. Unter dem Geschnatter der Engel lief Gott bis zum Horizont. Dort grub Er ein Loch ins Firmament, setzte den Samen hinein, blies einmal darauf und befahl: “Wachse!” Sofort schwang sich aus dem Firmament eine schlanke Ranke empor, einen sanften Bogen formend. Gott nickte zufrieden, und kehrte in den Himmel zurück, wo die Engel schon ungeduldig auf Ihn warteten.
Und dann vergaß Gott die kleine Mondpflanze. Wahrscheinlich, weil Er so viel anderes zu tun hatte, über das Universum herrschen, und dem Engelschor zuhören und so. Auf jeden Fall dachte Gott nicht mehr an den Mond, bis Sein nächster Besuch beim Volk des Nordwindes anstand. Er erreichte ihre Zelte im Schein des Sonnenlichtes. Kaissa spielte draußen, tollte im Schnee, warf ihn in die Luft, und das Sonnenlicht brach sich tausendfach in den Eiskristallen.
“Hallo Gott”, schrie sie begeistert bei Seinem Anblick und warf sich in Seine Arme. “Hätte ich gewußt, dass du heute kommst, hätte ich meine neuen Kleider angezogen.”
Er lachte und zeigte auf ihre alten Kleider auf denen die Schneekristalle festhingen.
“Meine Liebe, du bist schöner als die schönste Königin in all ihrem Prunk und all ihren Juwelen.” Da war Kaissa froh, denn Gott sagte immer die Wahrheit.
“Nun, wie geht es euch?”, wiederholte Gott etwas später in der Stammesrunde seine Frage vom letzten Mal. Wieder hatte er heißen Met und Rentierkäse in der Hand, und es schmeckte sogar noch besser als beim letzten Mal. “Wie gefällt euch mein neuer Mond?” Alle Gespräche verstummten, aber aus den Gesichtern entnahm Gott, dass sie überhaupt nicht glücklich waren. Das verwunderte und verstimmte Ihn sehr.
“Kaissa”, versuchte Er es bei dem Mädchen, “was sagst du? Gehst du nachher noch mal im Schnee spielen?”
Das Mädchen presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
“Ich fürchte mich vor ihm”, flüsterte sie. “Der Mond schaut so böse und ich habe Angst, dass er auf die Erde hinabfallen könnte.”
“Nun, das ist Unsinn!” brummte Gott. Er hatte sich solche Mühe gegeben und jetzt das! “Ich kann nicht verstehen, dass ihr Erwachsene ihr das närrische Geschwätz nicht ausgeredet habt. Der Mond ist freundlich und sanft. Ich zeige es dir.” Mit diesen Worten sprang Gott auf und stürmte nach draußen, wo gerade der Mond aufging. Er füllte den ganzen östlichen Horizont, hockte wie eine gigantische fette Kröte am Himmel. Gott hatte ihm nicht geboten, aufzuhören zu wachsen, und so war er immer weiter angeschwollen, zitterte, und schien tatsächlich jeden Augenblick auf die Erde zu stürzen. Gott starrte.
“Malin”, sagte er schließlich ruhig. “Kannst du mir dein Käsemesser ausleihen?”
Das Messer war abgenutzt vom vielen Gebrauch, aber wohlgeschärft und schnitt durch den Mond wie durch einen dicken Laib Käse. Gott säbelte eine mächtige Scheibe ab. Dann stand er da und überlegte, was er wohl damit anfangen sollte. Die Scheibe glitzerte und war kalt und erinnerte Gott an den Schnee, mit dem Kaissa heute gespielt hatte. Versuchsweise kratzte er ein wenig Staub ab und warf ihn in die Luft. Es funkelte, und fiel überall um ihn herum, und das machte ihn entsetzlich glücklich. Gott nahm ein größeres Stück und warf es mit aller Kraft. Es flog in einem weiten Bogen über das Firmament, bevor es in Tausend Funken zerplatzte. Gott lachte und rannte los, in einer geraden Linie mitten über den Himmel.
Die ganze Nacht über spielte er mit dem Mondschnee, über den Himmel laufend, werfend und tretend. Ihr denkt, das wäre unmöglich? Der Herr des Universums, Beherrscher der Heerscharen hätte keine Zeit für solch kindische Spiele? Seid ruhig, ihr Narren und kehrt zurück an eure Zähltische. Wozu sonst sollte man ein Universum erschaffen, wenn nicht, um im Schnee zu spielen.
Schließlich zeigte sich der helle Schein der Sonne im Osten und Gott verharrte. Erst jetzt sah er zum Mond hinüber, der gerade dabei war, unterzugehen. Die Schnittstelle war deutlich zu erkennen, unregelmäßig zerklüftet und unsauber.
“Ich habe nicht gut geschnitten”, dachte sich Gott. “ich werde morgen Nacht zurückkehren und ein weiteres Stück abschneiden.” Dieser Gedanke gefiel ihm außerordentlich gut.
In der nächsten Nacht gab Gott sich extra Mühe mit dem Schneiden, bevor er die Nacht mit dem Mondschnee verbrachte. Wieder inspizierte er den Mond bei Tagesanbruch. Der Schnitt war perfekt. Das mochte Gott gar nicht. Unzufrieden schüttelte er den Kopf.
“Der Schnitt mag gut aussehen, aber der Mond tut es nicht. Er ist fast eine Kugel, aber nicht mehr ganz und es sieht aus, als wüsste ich nicht, wie eine Kugel aussieht. Ich werde einen Halbmond daraus machen. Aber ich darf nicht zuviel jede Nacht abschneiden. Sonst stirbt die Mondfrucht völlig.” Er würde jede Nacht so viel wegschneiden wie in den ersten beiden Tagen, beschloss er. Das würde weitere fünf Nächte in Anspruch nehmen. Die Idee gefiel ihm richtig gut.
Doch er hörte nicht auf nach der siebten Nacht. Niemand weiß warum und Gott gibt keine Auskünfte. Vielleicht war er abgelenkt durch die Kinder, die nun, wo der Mond nicht mehr groß und gruselig war, unter ihm spielten. Doch sicher ist, dass er weitere sieben Tage Stücke vom Mond schnitt und die über den Himmel verteilte. So lange, bis der Mond am fünfzehnten Tag verschwunden war. Da erschrak Gott sehr. Das hatte er nicht gewollt. Er suchte den Himmel ab, jeden Zentimeter bis er, winzig und für menschliche Augen unsehbar klein, einen Mondsproß fand. Da war Gott erleichtert. Er schwor sich, den Mond von jetzt an in Ruhe zu lassen, ihn zum Ball wachsen zu lassen und dann zu stoppen. Und das tat er. Von seinem Himmelsthron aus sah Er zu, wie der Mond wieder zu einer Sichel wurde, die anschwoll und dicker wurde zum Halbmond, zum Dreiviertelmond, bis eines Nachts endlich wieder der volle Mondball am Himmel stand.
Erst da wagte sich Gott wieder zum Stamm des Nordwindes. Die Kinder spielten draußen und begrüßten ihn mit lauten Rufen. Auch die Erwachsenen waren vor ihren Zelten und erledigten ihre Aufgaben im Schein des vollen Mondes. Malin trat aus ihrem Zelt und winkte Gott zu sich heran. Zusammen mit den anderen setzte er sich am Feuer nieder.
“Nun, gefällt euch der Mond jetzt besser?”, fragte Gott nach einer Weile. Die Leute strahlten und redeten alle durcheinander.
“Fantastisch!”
“Wir können die Tiere im Mondschein füttern.”
“Wir können zwischen den Zelten umhergehen, ohne Feuer anzünden zu müssen.”
“Wir können abends noch spielen.”
“Da bin ich aber froh, dass ihr meinen Mond jetzt doch mögt. Ich möchte euch etwas fragen: Heute Nacht werde ich den Mond endgültig in Form schneiden, und ich dachte mir, ich lasse euch entscheiden, wie er aussehen soll. Also, welche Gestalt mochtet ihr am liebsten?”
Die Leute sahen einander an.
“Ich mochte die schlanke Sichel am liebsten”, sagte ein Mann direkt beim Feuer. Seine Frau neben ihm schüttelte energisch den Kopf.
“Nein, der war zu fragil. Der Halbmond war am besten.”
“Nein, der Vollmond!”
“Der fast Volle!”
“Jemand mochte den fast vollen am liebsten?” wunderte sich Gott. Er verzweifelte schier. Er hatte den Leuten vom Nordstamm die Enscheidung überlassen wollen. Aber jeder schien seine eigene Meinung zum perfekten Mond zu haben.
“Was denkst du, Kaissa?” fragte er schließlich das Kind. Sie zuckte mit den Schultern.
“Ich mag den Mond immer, egal wie er aussieht. Noch viel mehr aber liebe ich die Lichter!”
“Welche Lichter?”, fragte Gott.
“Die Lichter am Himmel. Und die Straße!”
“Welche Straße?”
“Ich zeige sie dir!”
Kaissa griff Gotts Ärmel und zog Ihn aus dem Zelt. Der einst schwarze Himmel war nicht mehr leer. Tausende und abertausende Lichter funkelten daran. Sie schienen zufällig verteilt, an manchen Stellen viele, an manchen wenige. Mitten über ihnen waren besonders viele. Wie eine Straße zog sich ein funkelndnes Band aus Mondschnee übers Firmament, da, wo Gott besonders gerne entlang gelaufen war. Gott starrte. Er hatte gedacht, dass der Mondschnee schmelzen würde, verschwinden. Doch er war noch da, und beleuchtete den Himmel.
“Was für ein Durcheinander da am Himmel ist! Ich glaube, ich fange noch mal ganz von vorne an”, rief Er unglücklich.
“Wenn ich einen anderen Vorschlag machen dürfte”, klang Malins Stimme hinter ihm.
“Lass deinen Vorschlag hören”, antwortete Gott.
“Warum es nicht so machen wie im letzten Monat? Alles ändert sich, die Jahreszeiten wechseln so wie Leben und Tod und das Ziehen der Herden. Warum nicht dem Mond das gleiche Schicksal gönnen. Den Mond jede Nacht schneiden und dann wieder zu seiner Fülle wachsen lassen? Außerdem…”, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu, “Hattest du solch große Freude mit den Lichtern.”
Gott lächelte. Das war ein guter Vorschlag und gerne nahm Er ihn an.
Und das ist der Grund, warum der Mond stets seine Form wechselt, und warum wir Sterne haben, und warum selbst der weiseste Mann sie nicht zählen kann. Doch wenn du reinen Herzens bist, und ganz genau hinschaust, kannst du Gott über seine Sternenstraße tollen und den Schnee verteilen sehen. Geh nur gleich hinaus, und sieh nach. Doch vergiss nicht, vorher der bescheidenen Erzählerin einen Schluck Met einzuschenken, auf dass sie auf euer Wohl trinke.